04 | 11 | 2019 | Schweiz | 0 | 7878 |
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Äschenland Schweiz
Es klingt Ende 2019 wie ein Märchen, doch es ist wahr. Die Schweiz war einst ein Äschenparadies. Unser Wasserschloss im Herzen der Alpen hatte in Fülle zu bieten, was dieser ökologisch anspruchsvolle Fisch für sein Wohlbefinden braucht. Heute geht es darum, das Überleben der Äsche in unserem Land zu sichern. Ein Blick aus der Vogelperspektive auf eine Geschichte mit ungewissem Ausgang.
In Mitteleuropa gilt die Äsche als ökologische Leitart. Nach ihr ist ein umfassender Wasserlebensraum benannt – die Äschenregion.
Im Alpenraum ist das jene Zone, wo sich Wildbäche und Jungflüsse in den Tälern vereinigen, gemächlicher fliessen und strukturell vielfältiger werden. Typisch sind mittlere bis starke Strömungen, Gerinnebreiten zwischen zehn und hundert Metern, kiesiger Gewässergrund und Wassertemperaturen im Sommer von deutlich unter 20 Grad. Neben der Äsche fühlen sich hier auch Bachforelle, Nase, Strömer, Schneider, Gründling, Groppe und Trüsche wohl. Regelmässig kommen Alet, Barbe, Hasel, Hecht und abenteuerlustige Egli zu Besuch. Im Einzugsgebiet der Donau nutzt der Huchen diesen Fischreichtum als apex predator, in der Schweiz besetzen grosse Bachforellen diese Nische.
Ökologische Zeigerart
Ein grosser Teil der Schweizer Flüsse und Bäche in Alpentälern, in den Voralpen, im Jura und im Mittelland gehört zur Äschenregion. Was unser Land für die Äsche besonders bedeutungsvoll macht, ist die zentrale zoogeografische Lage im Herzen des Kontinents. In den Schweizer Alpen entspringen der Rhein (Nordsee) und die Rhone (Mittelmeer), der Inn ist einer der wichtigsten Quellflüsse der Donau (Schwarzes Meer) und der Ticino ist der grösste Zufluss des Po (Adria).
In all diesen Einzugsgebieten haben sich einzigartige Äschenpopulationen entwickelt. Die Schweiz trägt entsprechend eine grosse Verantwortung für die Biodiversität der Äsche in Mitteleuropa.
Und diese Verantwortung geht noch viel weiter: Denn es sind vor allem Gewässer der Äschenregion, wo in unserem Land die früheren und hoffentlich künftigen Laichplätze der Wanderfischarten wie Lachs, Meerforelle oder Stör liegen. Die Äsche gilt deshalb als ökologische Zeigerart für die Wiederansiedlung dieser Arten. Wo es ihr gut geht, gibt es auch berechtigte Hoffnung für die Wanderfische. Leider gilt das auch umgekehrt ...
Perspektiven?
2019 bewegen sich die allermeisten Schweizer Äschenpopulationen in einer bedrohlichen Abwärtsspirale (siehe Seite 56). Trotz aufwendiger Renaturierungen, Besatzprogramme und Fangmoratorien lässt sich dieser Trend nur in Einzelfällen aufhalten, beispielsweise im Werdenberger Binnenkanal.
Das zunehmende Verschwinden der Äsche ist eine ökologische Katastrophe in Zeitlupe. Viele ältere «Petri-Heil»-Leser haben noch unbeschwerte Äschenzeiten erlebt und können nur traurig den Kopf schütteln über den enormen Verlust, den sie miterleben mussten. Aktuell gibt es in der Schweiz nur noch wenige Gewässer, wo man erfolgreich und nachhaltig auf Äschen fischen kann, und eine Besserung ist nicht absehbar.
Unter Druck seit 150 Jahren
Die massive ökologische Beeinträchtigung der Äschenregion in der Schweiz und in ganz Mitteleuropa begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Beginn der Industrialisierung.
Hochwasserschutz & Landgewinnung Die Verbauung der Flüsse für den Hochwasserschutz liess ausgedehnte Flachwasserzonen verschwinden – Lebensraum der Larven und Jungäschen. Der Melioration und Eindolung zur Landgewinnung fielen zehntausende Kilometer von Kleingewässern zum Opfer.
Kraftwerksbau Da die Flüsse der Äschenregion ein ideales Verhältnis von Gefälle und Wassermenge aufweisen, sind sie besonders attraktiv zur Stromgewinnung. Die Folge war ein fast flächendeckender Kraftwerksbau, durch den enorm viel Gewässerlebensraum verloren ging. In den gestauten Strecken verschlammen und veralgen die Kiesflächen, auf welche die Äschen für die Fortpflanzung angewiesen sind. Die Blockade der Wanderwege durch Wehre unterbricht Laichwanderungen und behindert die Verteilung der Jungfische. Durch Sunk-/Schwallbetrieb stranden und verenden ungezählte Larven und Jungfische.
Prädatoren An den verschonten oder zumindest halbwegs intakten Äschenstrecken (z. B. Hochrhein, Reuss, Aare, Linthkanal) entwickelte sich nach dem zweiten Weltkrieg eine wertvolle Flussfischerei, die regional das Rückgrat eines intensiven Vereinslebens bildete. Mit den ersten massiven Kormoraneinflügen am Linthkanal (Winter 1984/85) und am Hochrhein begann im gesamten Alpenraum eine weitere Äschenkrise, die zum Kollaps diverser Populationen führte. Der «schwarze Faktor» ist seither präsent und problematisch. Mit dem Aufschwung des Gänsesägers, der sehr geschickt Jungfische in flachem Wasser jagt, hat sich die Situation weiter verschärft.
Überfischung Die geschwächten Bestände bedeuten auch, dass die fischereiliche Nutzung stärkeren Einfluss auf die Restpopulation hat als früher. Fallweise haben zu grosszügige Entnahmen durch die Angelfischerei die Bestände zusätzlich geschwächt. Die Anforderungen an das Fischereimanagement sind bei der Äsche klar gestiegen.
Klimawandel Die chronische Erwärmung der Gewässer beeinträchtigt die Fitness der Äsche und ihrer Nährtiere, und sie macht sie anfälliger für Krankheitserreger wie z. B. den infektiösen Hautpilz Saprolegnia.
Die Häufung von Trockenperioden und die Zunahme von Hitzewellen bedeuten ein erhöhtes Risiko für Fischsterben. Der Sommer 2018 war ein trauriges Beispiel.
Worauf kann man denn noch hoffen?
- Die umfangreichen Sanierungsmassnahmen, die als erfreuliche Folge des revidierten Gewässerschutzgesetzes vielerorts in der Schweiz umgesetzt werden, sind mittelfristig wirksamer als es heute den Anschein macht, weil die natürlichen Gesundungsprozesse mehr Zeit brauchen als gedacht.
- Zumindest grosse Äschenpopulationen schaffen es dank ihres tieferen Genpools, sich an die neuen Temperaturverhältnisse anzupassen und Resistenzen gegen Krankheitserreger zu entwickeln. Es ist denkbar, sie durch gezielte Auswahl der Laichfische bei der Bewirtschaftung zu unterstützen. Als letztes Mittel ist analog zur Forstwirtschaft die Bewirtschaftung mit wärmetoleranteren Äschenstämmen eine Option.
- Die Äsche nutzt in den letzten Jahrzehnten vermehrt Seen als Lebensraum und Kaltwasser-Refugien im Sommer. Beispiele sind die Oberengadiner Talseen oder der Bodensee. Möglicherweise können sich die Populationen dank dieser Rückzugsmöglichkeit in einem Gewässersystem halten. Um diese Anpassung an die übermässigen Sommertemperaturen der Fliessgewässer zu unterstützen, lohnt es sich, Durchgängigkeit und Vernetzung aller Äschengewässer «mit Seeanschluss» zu verbessern.
- In höheren Lagen werden bei weiterem Fortschreiten der Erwärmung neue Lebensräume für die Äsche entstehen, insbesondere in Berg- und Stauseen und ihren Zuflüssen. Diese Entwicklung liesse sich durch Initialbesatz und gezielte Bewirtschaftung nützen und unterstützen.
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