20 | 07 | 2023 | Schweiz | 1 | 3728 |
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Hallwilersee
Malaise mit der Ökosystemleistung «Fischfang»
Erich Staub fasst die aktuelle Situation des Felchenertrags am Hallwilersee zusammen und fordert einen zeitgemässen Gewässerschutz.
Bekanntlich befindet sich der einst stark überdüngte Hallwilersee seit den 1980er-Jahren in einer Sanierungsphase. Dabei wird mit erfreulich grossen Anstrengungen versucht, die Phosphorzufuhr und damit ein übermässiges Algenwachstum zu reduzieren. Ziele für die Seen sind nach der Gewässerschutzverordnung des Bundes:
- Der Nährstoffgehalt darf höchstens eine mittlere Produktion von Biomasse zulassen.
- Der Sauerstoffgehalt des Wassers darf zu keiner Zeit und in keiner Seetiefe weniger als 4 mg/l betragen.
- Der See muss als Laichgewässer für Fische erhalten bleiben.
Bezüglich dem Sauerstoffgehalt ist das Ziel noch nicht erreicht, weshalb im Sommer das Tiefenwasser belüftet werden muss. Für die Felchen ist dieser See kein Laichgewässer: Eine von 2014 bis 2018 durchgeführte Untersuchung ergab, dass über 90 Prozent der ausgewachsenen Felchen aus Besatz stammen und nur 9,7 Prozent aus natürlicher Reproduktion. Ein Auftrag zur Erhaltung oder Förderung der Ökosystemleistung «Fischfang» existiert in der Gewässerschutzgesetzgebung – im Gegensatz zu Nutzungszielen wie Badegewässer, Wärmeentnahme usw. – leider nicht. Wenig erstaunlich liegen die Fänge weit unter dem Potenzial dieses Gewässers.
Wachstum der Felchen
Im Hallwilersee erreichen einjährige Felchen in Jahren mit einem gutem Wachstum 19 cm, in Jahren mit schlechtem Wachstum eine Länge von 15 cm. Diesen Längenunterschied von vier Zentimetern holen die Fische zeitlebens nicht mehr ein. Die Felchengenerationen seit 2016 zählen zu «Schlechtwüchsern» und erreichen nicht mehr die Grösse und das Gewicht früherer Jahrgänge. Bei den vierjährigen Felchen ist der Längenverlust mit durchschnittlich 11 Zentimetern noch ausgeprägter und resultiert in einem deutlich geringeren Gewicht. Wenn die gefangenen Felchen nur noch halb so schwer werden wie früher, halbiert sich damit auch der aus dem See abgeschöpfte Fischereiertrag. Der Berufsfischereiertrag sank im Jahr 2021 auf 4,2 Tonnen (60 Prozent unter dem Zehnjahresmittel) und auch in der Angelfischerei ging der Fang zurück. Untersuchungen der Uni Lausanne und des Büros Aquabios gelangten bezüglich den Wachstumseinbussen zu folgendem Schluss: Je mehr Brütlinge eingesetzt werden, desto geringer sei das Wachstum der Jungfelchen – also «Dichtestress» wegen zu vieler eingesetzter Brütlinge. Doch die Kleinwüchsigkeit der mehrjährigen Felchen lassen sich nicht allein mit einem Defizit als Brütlinge erklären. Naheliegend ist, dass auch häufig leere Felchen-Mägen (Hungerphasen) bei älteren Felchen dafür verantwortlich sind. Es ist deshalb notwendig, dass die Erfassung der leeren Mägen und der Futterzusammensetzung in das Felchenmonitoring für den Hallwilersee aufgenommen wird.
Überprüfung des FIE-Hype
Vor rund 15 Jahren verbreitete sich in der Fischerei-Wissenschaft der FIE-Hype (fisheries-induced evolution). Demnach würden die wachstumsfreudigsten Felchen (oder andere Fischarten) zuerst abgefischt (in erster Linie ist damit die Netzfischerei gemeint) und aus der Population entfernt. Die Raschwüchser kommen deshalb nicht mehr zur Fortpflanzung und ihr genetisches Gut verschwindet mit der Zeit. Die These, dass ein verringertes Wachstum durch eine Zunahme der Langsamwüchser verursacht wird, wurde 2009 für den Bodensee und 2011 für den Brienzersee erwähnt.
Ob ein verlangsamtes Felchenwachstum genetisch bedingt ist (FIE) oder wie weit die Umwelt (Futtersituation) eine Rolle spielt, ist für die Bewirtschaftungsverantwortlichen wichtig. Deshalb hatte das BAFU bereits 2009 beim Felchenspezialisten Ruedi Müller das Thema «Verlangsamtes Felchenwachstum und seine Ursachen in Schweizer Seen» klären lassen. Am Hallwilersee nahmen die Längen der vierjährigen Felchen von 1981 bis 1999 erst kontinuierlich ab, danach folgten aber Jahrgänge mit besserem Wachstum. Daraus schloss Ruedi Müller: Wenn das Erbgut der Raschwüchser verloren gegangen wäre, dann hätten die Felchen nicht plötzlich aus genetischen Gründen wieder frohwüchsiger werden können − aber sehr wohl aus Umweltgründen (Futtersituation). Für die primäre Wirkung von Umweltgründen spricht auch die Tatsache, dass Wachstumsverlangsamungen nur in nährstoffarmen oder reoligotrophierten Seen (z. B. Brienzersee, Bodensee) festgestellt wurden, nicht aber in vergleichsweise phosphorreichen Seen bei anhaltendem Befischungsdruck (z. B. Genfersee, wo leere Felchenmägen bisher kaum festzustellen sind).
Die FIE-Theorie geht von der Vorstellung aus, dass in Seen die Dichte von Algen und Zooplankton homogen verteilt sei. Individuen mit genetischen Vorteilen (bessere Futterverwertung, besseres Sehen und Erbeuten der Nahrung usw.) würden in dieser homogenen Situation am raschesten wachsen und deshalb als Erste durch die Fischerei entfernt. Ihre vorteilhaften genetischen Eigenschaften kämen dadurch bei der Fortpflanzung zu kurz. Doch in den Gewässern ist das Plankton (Felchenfutter) sehr unregelmässig verteilt. Die Wachstumsgeschwindigkeit der Felchen ist somit neben genetischen Eigenschaften auch stark vom Futterangebot am Aufenthaltsort der Fische abhängig. Anders ausgedrückt: Nicht der genetische «Raschwüchser» landet zuerst im Netz, sondern dasjenige Felchen, dessen Maul sich an einem guten Fressplatz befunden hat.
Nahrungsketten-Denken statt simples Zudrehen der P-Schraube
Der Gewässerschutz fokussiert sich einseitig auf die Drosselung des Phosphors (P), während Stickstoff (N) fast ungebremst über die Zuflüsse in den See gelangt und auch über die Luft eingetragen wird. Dadurch entsteht ein unnatürlich hohes N:P-Verhältnis im See, was die Planktonzusammensetzung zu Ungunsten der Nahrungskette beeinflusst. Weiter dominiert im Hallwilersee die fädige Burgunderblutalge. Diese für das Zooplankton nicht nutzbare Blaualge entzieht dem System aber wertvolle Nährstoffe. Das fressbare Zooplankton nimmt ab und die Felchen hungern. Das Phosphor-Sanierungsziel für den Hallwilersee wurde stetig gesenkt und wird derzeit mit unter 10 mg P/m3 angegeben. Das entspricht der Situation für einen natürlicherweise nährstoffarmen Alpenrandsee, aber nicht für einen Mittellandsee. Diese Politik des Zudrehens der P-Schraube sollte durch eine Nahrungsketten-Betrachtung ersetzt werden. Denn auch der Fischfang ist eine schützenswerte Ökosystemleistung und kommt letztendlich nicht nur dem Menschen zugute, sondern auch dem Lebensraum Wasser und aller Tiere, die darin und davon leben. Nicht zuletzt könnte die Felchenvielfalt der Schweizer Seen durch akute Nahrungsknappheit gefährdet werden. Die Evolution hat die aquatischen Nahrungsketten nicht auf ein unnatürliches N:P-Verhältnis und ein hohes Aufkommen ungeniessbarer Algen vorbereitet.
Die richtigen Prioritäten setzen im Gewässerschutz
Die Kläranlagen (ARAs) haben vom Bundesrat drei neue Aufgaben erhalten, wofür sehr umfangreiche, viele Millionen Franken kostende technische Erneuerungen notwendig sind:
- Der Phosphor muss aus dem Klärschlamm entnommen und daraus ein Recycling-Phosphordünger hergestellt werden. Diese Aufgabe basiert auf dem Gedankengut der Kreislaufwirtschaft. Die technische Umsetzung dieser Aufgabe ist einigermassen klar. Die marktwirtschaftliche Umstellung von importiertem Phosphordünger auf Schweizer Recycling-Phosphordünger ist noch mit Fragezeichen behaftet. Termin für die Umsetzung ist 2026.
- Das Schweizer Parlament beschloss Mitte 2021, dass die grossen Stickstoffeinträge aus den ARAs in die Gewässer rasch verringert werden müssen, d. h. die Stickstoff-Elimination, welche in Schweizer ARAs derzeit 47 % beträgt, muss auf das im Ausland übliche Niveau von 75 % angehoben werden. Bisher gibt es noch kaum Details und deshalb auch keine Frist zur Umsetzung dieser Aufgabe.
- Weiter beschloss das Schweizer Parlament Ende 2021, dass die Massnahmen gegen Mikroverunreinigungen (Reinigungsstufe zur Entfernung von Pestiziden, Medikamentenrückständen usw.) ausgeweitet werden müssen. Eine Identifikation der 200 betroffenen ARAs ist gemäss Gewässerschutzverordnung relativ klar, und als Frist für die technische Umsetzung gilt indirekt das Jahr 2040, weil dann die Kostenbeiträge aus dem Abwasserfonds des Bundes auslaufen.
Auf der BAFU-Homepage steht: «Beim Phosphorrecycling nimmt die Schweiz weltweit eine Vorreiterrolle ein.» Dies trifft tatsächlich zu, da die EU ihr Phosphorrecycling-Programm zurückgestellt hat. Auch Umweltminister Albert Rösti wäre sicher gut beraten, beim Gewässerschutz die Priorität auf die Elimination von Stickstoff und der Reduktion der Mikroverunreinigungen in den ARAs zu legen.
Falls diese Prioritäten im Bereich Gewässerschutz durch die Fischereiverbände SFV und SBFV an Bundesrat Rösti herangetragen werden, dann sollte auch die im Jahr 2017 in die Bundesverfassung aufgenommene Ernährungssicherheit thematisiert werden. Diese verlangt einen ressourcenschonenden Umgang mit den Lebensmitteln. Dass viele Berufsfischereibetriebe wegen zu kleiner Fangmengen nicht mehr überlebensfähig sind und mehr als doppelt so rasch verschwinden wie die Landwirtschaftsbetriebe, sollte dem Bundesrat nicht egal sein.
Posthume Ehrung von Dr. Rudolf Müller
Bei einer kürzlichen Revision der Felchentaxonomie wurden die Albeli vom Zugersee und vom Vierwaldstättersee als genetisch unterschiedlich taxiert. Das ausgestorbene Albeli des Zugersees behielt seinen Namen Coregonus zugensis. Das Albeli des Vierwaldstättersees erhielt neu den Namen Coregonus muelleri. Dieser Name ist eine Ehrerweisung und quasi der posthume Ritterschlag für den kürzlich verstorbenen Felchenspezialisten Ruedi Müller.
Martin
Also beim Thema Gewässerschutz, sollte auch mal überprüft werden, ob bei Seen nicht Geschiebe der Zuflüsse entnommen werden sollte. Es gibt zwar ein Gesetz, dass die Entnahme von Geschiebe aus Flüssen und Seen verbietet, aber das betrifft die komerzielle Kiesindustrie. So was ich gehört habe, verlandet der Hallwilersee bei einem Fluss Zulauf. Auch beim Sempachersee ist dies zu beobachten. Umweltschutz hin oder her, aber solches Geschiebe muss eben auch mal abgetragen werden, ansonsten sinkt das Fassungsvermögen des Sees und bei Starkregen tritt der See schneller über die Ufer. Die Schäden an Gebäuden werden dann nicht übernommen. Auch nicht, wenn ein Boot aufsetzt oder so. Da dürften die Kantone schon mal etwas machen. Was die Kläranlagen angeht, so wäre vielleicht auch ein Bericht über das Werdhölzli in Zürich, die modernste Kläranlage der Schweiz, bestimmt noch interessant.