07 | 03 | 2022 | Praxis | Diverses | 1 | 9493 |
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Das Seitenlinienorgan der Fische
In den letzten Ausgaben von «Petri-Heil» befassten wir uns mit den Sinnesorganen der Fische: Dem Sehsinn, dem Gehörsinn, dem Riechsinn und dem Geschmackssinn. Die Fische verfügen aber noch über ein weiteres, genauso faszinierendes Organ: Das Seitenlinienorgan. Robin Melliger erklärt uns die Funktion dieses für die Fische enorm wichtigen sensorischen Organs, das sich als scheinbar simplen Unterbruch der Schuppensymmetrie erkennen lässt.
Tausende von kleinen Fischen schwimmen dicht beieinander an der Wasseroberfläche. Unter ihnen lauern gefrässige Meeresräuber, welche sich die Bäuche vollschlagen wollen. Sie beschleunigen auf hohe Geschwindigkeiten, stossen senkrecht empor und trennen den gesamten Schwarm. Dieser vereint sich innert Sekunden wieder zu einem einheitlichen «Körper». Bei diesen Geschwindigkeiten fragt man sich, wie die Fische die unvermeidlich scheinenden Zusammenstösse verhindern können. Forscher setzen sich seit Jahrhunderten mit den symmetrischen Bewegungen von Schwarmfischen auseinander. Man fand heraus, dass diese Kunst des Schwarmlebens nur mithilfe eines Organs möglich ist: dem Seitenlinienorgan.
Wie funktioniert das Seitenlinienorgan?
Bei jedem Fisch ist das Organ mehr oder weniger gut an einer feinen Linie in der Mitte der Flanke auf beiden Seiten erkennbar. Die Linien können unterschiedliche Formen und Schwünge aufweisen, erstrecken sich aber immer von der Schwanzwurzel bis zu den Kiemen. Entlang dieser Linie befinden sich Rezeptoren. Bei gewissen Fischen sind Rezeptoren des Seitenlinienorgans auch entlang des Kopfs und der Kiemendeckel zu erkennen. Bei Fischen wie dem Zander sind beispielsweise oft Farbänderungen ober- und unterhalb der Seitenlinie zu beobachten. Ebenfalls können sich die Form und Grösse der Schuppen an dieser Stelle der Seitenlinie voneinander unterscheiden. Bei Fischarten, welche über kein Schuppenkleid verfügen, ist die Seitenlinie oft schwerer erkennbar.
Mit dem Seitenliniensystem, einem sensorischen Organ, orten sich die Fische untereinander, sie können sich förmlich spüren. Noch so kleine Strömungsänderungen und die daraus entstehenden Sinnesreize werden durch diesen hochsensiblen Ferntastsinn aufgenommen und verarbeitet. Diese können durch einen gestressten Fisch, eine Erschütterung oder durch andere Schwarmfische in nächster Nähe ausgelöst werden. Die Oberflächen dieser mit Flüssigkeit umgebenen Zellen sind mit haarähnlichen Rezeptoren bewachsen. Gelangt durch Druckübertragung Wasser in diese feinen Poren des Seitenliniensystems, werden die Härchen darin mitbewegt. Dies leitet folglich ein biochemisches Signal an tausende angrenzende Nervenfasern weiter. In diesen Nervenfasern entsteht wiederum ein elektrischer Impuls, der dann an das Hirn weitergeleitet wird. Das Hirn schickt Signale an die Muskeln der Fische, um sich der Situation entsprechend zu bewegen. Das Unglaubliche ist, dass sich dieser komplexe und ineinandergreifende Prozess in Hundertstelsekunden abspielt. Das Seitenlinienorgan ist über Nerven direkt mit dem Innenohr verbunden. So können Schwingungen aus grosser Distanz mithilfe des Gehörsinns wahrgenommen werden. Das Zusammenspiel dieser zwei Sinne erbringt eine genaue Ortung von Gefahren. Fische, die über keine intakte Seitenlinie verfügen, sterben meist in den ersten Wochen.
In Stillwasser lebende Fische besitzen meist deutlich mehr Oberflächenrezeptoren als Fische, die in Fliessgewässern oder Brandungszonen der Meere leben. Bei den Fischen in schnellfliessenden Gewässern ist das Kanalsystem und die Porentiefe ausgeprägter strukturiert. Im Verlauf der Evolution haben Fische die sensorische Empfindlichkeit je nach Bedingung ihrer Umwelt angepasst. Die Sensibilität des Sinnesorgans schnell schwimmender Fische unterscheidet sich ebenfalls von jenen, welche weniger oft schnell unterwegs sind. Die eher trägen Welse und Karpfen beispielsweise verfügen daher über sensiblere Rezeptoren. In welchem Ausmass sich Wasserbewegungen auf die Feinfühligkeit der Rezeptoren auswirken, ist nicht abschliessend erforscht.
Der feinfühlige Hai
Und wieder stehen die Haifische im Fokus, auch bei diesem Sinnesorgan. Nicht verwunderlich ist es daher, dass sie mit einer solchen Sinnesausstattung seit mehreren hundert Millionen Jahren in den Weltmeeren dominieren. Das Seitenliniensystem eines Riffhais ist darauf ausgelegt, schwächste Signale eines Beutefischs zu empfangen und so kann er sie auch in guten Verstecken aufspüren. Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass ein Haifisch den erhöhten Herzschlag eines gestressten Beutefischs mithilfe des Seitenlinienorgans aufnehmen und orten kann. Durch die Distanz, bzw. die Zeitdifferenz, welche die Druckwelle zwischen Poren und Nerven zurücklegt, kann der Hai die exakte Richtung der Druckquelle ermitteln und blitzschnell darauf reagieren, selbst wenn andere Sinne blockiert sind oder nicht genutzt werden können. In Kombination mit ihrem ausgezeichneten Hörsinn, welcher die Aufnahme von weiter entfernten Wasserstörungen ermöglicht, entgeht einem Haifisch in seinem Revier nur sehr wenig.
Von Fisch zu Roboter
Dass Fische in der Lage sind, feinste Unterschiede der Wasserströmung zu spüren, fasziniert auch die Wissenschaft. Nachdem das Konzept des Seitenlinienorgans genaustens untersucht worden war, wendeten die Techniker der Universität Bonn das Fachwissen in der Sensortechnik an. Sie entwickelten einen hochsensiblen Sensor, der kleinste Abweichungen der Druckverhältnisse in Wasser- und Gasströmen aufzeichnet. Durch diesen Sensor kann man somit in tief verbauten Rohrleitungen, aus welchen Gas oder Trinkwasser austritt, Schäden und Löcher ausfindig machen und diese dann beseitigen. Der Mensch macht sich auch aus diesem hochkomplexen Organ der Fische einen Nutzen.
Faktor Vibration beim Fischen
Die visuellen Reize eines Köders gehen unter Wasser bei grösserer Distanz und getrübtem Wasser schnell verloren, also müssen die Fische auf eine andere Weise zum Köder finden. Viele Spinnköder geben beim Einziehen Vibrationen von sich. Die einen rasseln durch Kugeln im Inneren des Köders, andere werden mithilfe eines Spinnerblatts zum Schwingen gebracht. Gummifische geben durch ihren Schwanz Schwingungen von sich. Wahre Vibrationstalente sind beispielsweise Mepps-Spinner (durch die Rotation des Spinnerblatts) und sogenannte Chatterbaits, welche durch ein vorgeschaltetes Blatt stark ausbrechen. Durch die ausgeprägten Vibrationen werden Fische auch aus einer weiten Distanz darauf aufmerksam. Durch den Gehörsinn und das Seitenlinienorgan verfügen die meisten Fische über genug Rezeptoren, um die Köder genau orten zu können, auch bei trübem Wasser. Das erklärt auch, warum beispielsweise Welse in sehr trübem Wasser gleichwohl mit Spinnködern gefangen werden können: Die Schwingungen dieser Köder werden durch das Seitenlinienorgan aufgenommen und der Köder kann so geortet werden.
> Auge in Auge mit den Fischen
> Das Geruchs- und Geschmacksorgan der Fische
Simon Hofstätter
Gut und frei gesprochen. Viel Bilder verwendet. Keine Fehler. 8/10